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Selbst hergestellte Paracetamol-Säfte

Medikamentenknappheit in Deutschland

In den letzten Monaten hat sich die Knappheit von Medikamenten dramatisch verschärft. Ist Anfang 2022 ein kompletter Wirkstoff gegen Brustkrebs ausgefallen, sind inzwischen nicht nur Fiebersäfte und -zäpfchen für Kinder knapp. Die Lieferschwierigkeiten gehen bei uns quer durchs Sortiment. Und jeden Tag kommen neue „defekte“1 Artikel dazu. Inzwischen sind in unserer verhältnismäßig kleinen Apotheke über 300 Medikamente, die wir üblicherweise bei uns lagern, nicht mehr zu bekommen. Leider wissen wir oft nicht wie lange so ein Ausfall dauert. Denn die Hersteller halten sich oft mit konkreten Lieferdaten zurück. Oder sie verschieben das Datum immer wieder.

Der Vorsitzende des Apothekengroßhandels NOWEDA, Dr. Michael Kuck, hat sich dazu kürzlich geäußert und einige Hintergründe erklärt. Und auch ein Kollege hat sich bereits 2019 zum Thema geäußert:

Facebook-Beitrag von Erik Modrack als Grafik. Der Link zum Beitrag ist vorher im Text.
Die Probleme sind vielschichtig:
  • zum einen ist die Produktion von Arzneimitteln aufgrund des Preisdrucks unseres deutschen Gesundheitsystems von vielen Herstellern nach China, Indien und andere Länder verlagert worden. Galt Deutschland früher als „Apotheke der Welt“, müssen wir uns heute eher als „Schmarotzer der Welt“ bezeichnen.
  • die Verlagerung der Prodution führte dann zu einer Konzentration. Die Vielfalt der Hersteller und Zulieferer ging verloren. Deshalb gibt es für bestimmte Wirkstoffe heute manchmal nur 1-2 Hersteller von Arzneistoffen weltweit. Fällt ein Rohstoff-Hersteller aus -wie vor einiger Zeit ein Ibuprofen-Werk in Amerika- fehlt der Wirkstoff für die gesamte Pharmaindustrie.
  • die Lagerhaltung bei Herstellern, Großhändlern und auch uns Apotheken ist anders als noch vor einigen Jahren. Früher hatten Apotheken vielleicht 1-2 Hersteller vorrätig. Dafür hatte man dann von jedem dieser Hersteller gleich 5, 10 oder mehr Packungen da. Durch die Rabattverträge der gesetzlichen Krankenkassen hat sich das komplett verändert: heute haben wir Arzneimittel von 10-20 Herstellern vorrätig. Dafür aber dann jeweils nur 1 Packung. Und ähnlich wie in den Apotheken sieht das auch bei den Großhändlern aus. Die Bevorratung wird heruntergefahren, weil man das Risiko, dass durch eine Änderung des Rabattvertrags plötzlich große Mengen vorrätiger Arzneimittel nicht mehr verkauft werden können, nicht eingehen möchte.
  • die Preise in Deutschland sind „kaputt“. Bei uns werden die Preise von den Krankenkassen festgelegt. Es gibt sogenannte „Festbeträge“. Der Festbetrag ist der maximale Betrag, den die gesetzliche Krankenkasse zahlt. Und er wird in schöner Regelmäßigkeit „angepasst“. Allerdings habe ich in meinen über 20 Berufsjahren noch nie eine Anpassung nach oben erlebt. Immer musste es billiger werden. Übrigens: wenn ein Medikament mehr kostet als die Kasse zahlen möchte, ist der Patient der Dumme. Denn er muss die Mehrkosten, also die Differenz zwischen dem Preis, den der Hersteller verlangt (siehe Arzneimittelpreise) und dem Festbetrag bezahlen. Manchmal sind das nur wenige Cent. Ab und an können es aber auch ein paar Hundert Euro sein. Ein Hersteller von Antibiotikasäften für Kinder hat jetzt beschlossen seine Preise über den Festbetrag zu heben, was dann zu den besagten Mehrkosten führt. Für die Eltern sicher ärgerlich. Auf der anderen Seite zahle ich lieber etwas mehr, bekomme aber dann auch das passende Medikament für mein Kind.

Welche Lösungsansätze gibt es?

Der einfachste Ansatz dürfte eine generelle Preiserhöhung im Festbetragsbereich sein. Das passiert gerade zum Teil, reicht aber sicher nicht aus. Denn wenn die Preise steigen, steigen auch die Kosten für die Krankenkassen. Also müsste man hier kompensieren. Das ginge zum Beispiel über einen Verzicht auf die Mehrwertsteuer bei (verschreibungspflichtigen) Arzneimitteln, wie es in anderen Ländern üblich ist. Alternativ wäre auch der Switch auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz möglich.

Um die Produktion von Ausgangsstoffen und Arzneimitteln nach Deutschland zurückzuholen braucht es aber mehr: weniger Lohnnebenkosten, mehr Anreize für Fachkräfte, Unterstützung bei der Umsetzung von Umweltauflagen sind die Punkte, die mir spontan dazu einfallen.

Das System der Rabattverträge sollte ebenfalls überdacht werden. Es ist nicht sinnvoll, dass nur ein Hersteller einen exklusiven Zuschlag bekommt. Diversifizierung heißt das Zauberwort. Abschaffung von Exklusivverträgen, hin zu mindestens drei Industriepartnern könnte eine Lösung sein.

Ob und welche Maßnahmen dann wirklich durchgeführt werden, weiß ich nicht. Und ich bin sicherlich nicht der schlaueste Kopf in diesem Bereich. Aber es wäre ein Anfang. Und dieser Anfang tut dringend Not.


1: als „Defekt“ wird in Apotheken ein Artikel bezeichnet, der für eine unbestimmte Zeit nicht lieferbar ist.